13.11.2013

Frankfurt-Marathon: Blindflug in die Festhalle

Bericht eines blinden Läufers

Es ist der 27. Oktober 2013 und endlich ist es soweit. Das Foto mit den anderen Adlern ist geschossen, alle Formalien sind erledigt und wir sind auf dem Weg zum Startbereich des BMW Frankfurt Marathon. Wir, das sind Aleco, Corinna, Micaela und ich, Uwe, der „Sammelpunkt“ unserer kleinen Gruppe. Ich bin blind und will in diesem Jahr zum zweiten Mal in die Festhalle einlaufen. Aleco und Micaela werden mich auf der Marathonstrecke begleiten und führen; Corinna will in etwa meine Zeit laufen und ist dabei, um mich wenigstens im Startbereich etwas abzuschirmen.Mit dem Startschuss setzen wir uns langsam in Bewegung und gehen Richtung Startlinie. Aleco hat den ersten Teil der Strecke als Begleitläufer übernommen und läuft links neben mir. Wir sind am Handgelenk mit einem Band verbunden, um uns nicht zu verlieren; wenn es eng wird wie jetzt ergreift er meinen Arm, um mich zu steuern. Mica läuft rechts neben mir, damit niemand von dieser Seite plötzlich vor mir auftauchen kann; Corinna ist etwas vor uns, um die anderen Läufer zu warnen und im Gedränge etwas Platz zu schaffen.Wir traben locker los und kommen in der Menge ganz gut voran. Ungefähr bei km 3 schleicht sich eine dieser hinterhältigen Mülltüten, die manche Läufer zum Warmhalten benutzen, zwischen meine Füße und lässt mich stolpern; ich stürze nach vorne und schramme mir ein Knie auf. Während die Aufregung bei den anderen groß ist, bin ich längst wieder auf den Beinen und laufe weiter. Dabei versuche ich, wieder etwas Ruhe in die Gruppe zu bringen, schließlich ist nichts Schlimmes passiert.Weiter geht es durch die enge Innenstadt. Wir sind gut unterwegs, auch wenn ich meinen Zeitplan bei der Enge nicht ganz halten kann. Corinna schnauft gelegentlich, und ich erkläre ihr – fürsorglich wie ich nun mal bin – dass der schlimmste Teil vorbei ist und sie gerne ihr eigenes Tempo laufen kann, wenn sie möchte. Sie nickt dankbar und bleibt weiter bei uns; so sind die Adler eben!Ungefähr bei km 11 passiert dann, was ich schon beim Start befürchtet habe. Ein dynamischer Staffelläufer kommt von hinten und rempelt sich seinen Weg durch die Menge. Aber unser System funktioniert; Mica blockt ihn ab und er wird von einigen Menschen um uns herum unfreundlich aufgefordert, etwas vorsichtiger zu sein.Wenig später setzt der Regen ein, der uns dann über den Main und durch Sachsenhausen begleitet. Allmählich wird die Strecke etwas freier, und ich kann lockerer laufen. Trotzdem merke ich, dass die vielen kleinen Ausweichmanöver Zeit und Kraft kosten.Bei km 15 heißt es zum ersten Mal Verpflegung fassen. Mica und Corinna sprechen sich kurz ab, verpflegen erst sich und versorgen dann Aleco und mich mit Wasser. Kurz danach hört der Regen auf. Der alte Spruch bewahrheitet sich wieder mal: Je weniger du an hast, umso weniger kann nass werden. Die kurze Hose und das Shirt sind im Nu trocken, nur die Schuhe werden durch die Pfützen immer wieder mal durchgefeuchtet.Bei 1:56 passieren wir die Halbmarathonmarke. Eigentlich wollte ich 2 Minuten früher hier sein, aber das Wetter fordert seinen Tribut. Trotzdem sind wir immer noch zusammen und guter Dinge. Bald laufen wir auf ein Geburtstagskind auf. Wir stimmen ein fröhliches „Happy Birthday“ an und ziehen vorbei. Leider sind wir hier etwas schneller als unser Umfeld und müssen häufig überholen. Die meisten sind echt nett und machen gerne Platz, wenn sie auf einen blinden Läufer hingewiesen werden. Allerdings gibt es auch hier die Leute mit dem Ohrenpilz (siehe dazu die Abhandlungen von Frau Schmitt), die nichts peilen und unbeirrt durch die Gegend latschen. Dabei dachte ich, Ohrstöpsel seien bei solchen Veranstaltungen verboten...Bei Aleco machen sich allmählich Konzentrationsschwierigkeiten bemerkbar; Führungsarbeit bei dieser Menschenmenge ist schon ein hartes Stück Arbeit. So übernimmt bei km 25 Mica die Führungsaufgabe. Aleco schert beim Adler-Support kurz aus und greift bei Till meinen Verpflegungsbeutel. Die Versorgung mit Wasser klappt auch hier wie immer gut; wir laufen weiter und ich übernehme nach einigen hundert Metern meine Verpflegung von Aleco.Während der nächsten Kilometer passieren wir in Höchst den entferntesten Punkt der Strecke. Jetzt geht es nach Hause! Kurz vor dem Staffelwechsel taucht Aleco wieder auf, der zwischendurch kurz mal verschwunden war. Für mich wird es allmählich hart, die Oberschenkel beginnen zu schmerzen. Zum Glück ertönt beim Staffelwechsel „Hell Racer“ von Sweet und bringt mich wieder etwas in Schwung. Corinna hat sich etwas abgesetzt und wartet auf uns; Beflügelt von der Musik kann ich die Lücke noch mal zulaufen, aber es wird das letzte Mal sein.Wir laufen weiter Richtung Mainzer Landstraße, wo es dann richtig hart wird. Gerade in diesem Bereich brechen die ersten allmählich zusammen, werden ruckartig langsamer oder bleiben aus heiterem Himmel mitten auf der Piste stehen, was selbst für einen Sehenden zum Problem werden kann, für mich aber echt riskant ist. So entwickelt sich die Mainzer zu einem Hindernislauf.Und allmählich zerlegt sich unsere Gruppe. Aleco lässt abreißen; er hat hart gearbeitet und gerade auf den letzten Kilometern noch einen tollen Lauf hingelegt. Kurz darauf dampft Corinna ab – hier muss jetzt jeder sein Tempo laufen. Nur Mica läuft unbeirrt weiter und zeigt immer noch keine Schwäche. Wir verlassen die Mainzer und biegen ins Gallus ab. Kurz darauf passieren wir den Verpflegungsstand der Eintracht, wo wir wieder hervorragend versorgt werden. Plötzlich skandieren alle „uwe, Uwe“, was mir für einen Moment noch einen Schub gibt. Micha läuft kurz mit uns und checkt, ob alles okay ist.Leider ist hier gar nichts mehr okay. Die Beine schmerzen, der Wind nimmt immer mehr zu und die Strecke wird immer wieder eng und kurvig. Für mich verschwindet alles im Tunnel, und Micaela hat alle Hände voll zu tun, um mich auf Spur zu halten. Trotzdem findet sie noch genug Kraft, um mich zu motivieren und anzutreiben.Erst ab km 40 geht es wieder etwas besser; das Ziel rückt allmählich in greifbare Nähe. Meine Zeit habe ich längst aus dem Blick verloren, und erst lange nach dem Zieleinlauf werde ich realisieren, dass ich auf diesem letzten Stück gerade noch genug Reserven mobilisiert habe.Jetzt geht es über die Straßenbahnschienen und endgültig Richtung Festhalle. Lächeln, Uwe!Und dann wird es dunkel um mich. Nicht, weil ich zusammenbreche, sondern weil meine Augen nur noch den Wechsel in die Festhalle als Übergang ins Dunkle wahrnehmen. Eine Hand ergreift mich von rechts – Corinna ist wieder da. Ein kurzes Kommando, und meine Arme fliegen in Siegerpose in die Höhe, gehalten von Micaela auf der einen und Corinna auf der anderen Seite.Beim Sound von „Born to be wild“ fliegen wir über die Ziellinie!Das wir mit 3:59:52 gerade noch die Vier-Stunden-Marke geknackt haben, erfahre ich erst bei der Medaillenausgabe. Meine Zeit vom letzten Jahr habe ich damit um 21 Minuten verbessert, und es bleibt genug Spielraum, um im nächsten Jahr noch mal zu beschleunigen.Wir haben gemeinsam eine tolle Leistung hingelegt. Dabei sei besonders noch Sampo gedankt, der aus gesundheitlichen Gründen absagen musste; Micha Bender, der ganz viel im Hintergrund für meine Unterstützung getan hat und natürlich den vielen Adlern, die während des letzten Jahres bei meinen Starts plötzlich da waren und mal für Platz gesorgt haben oder mir auf andere Weise geholfen haben.